Ein Bruder kam zu Gast
— 1432 words — 8 min
Ein Bruder kam zu Gast von Daniel Schick.
Ein emotional sehr mitnehmendes Buch. Es ist keine heroische, kriegsverherrlichende Geschichte, sondern ein Buch, dass die traurige Realität des Krieges zeichnet: Der Gegensatz zwischen Staatspropaganda und Kriegsrealität, zerstörte Landschaften, Städte, Träume, Freundschaften, zerrissenen Familien und vor allem: ungelebte Leben.
Dieses Buch ist all jenen sehr zu empfehlen, die jemals behaupteten, dass es früher einmal besser gewesen war: Denn welches früher meinen sie?
Es beginnt mit folgendem Satz:
Es ist für die Erziehung der Kinder bedauerlich, dass Kriegsgeschichten immer nur von denen erzählt werden, die überlebt haben.
– Louis Scutenaire
Daniel Schick erzählt also die Geschichte aus der Perspektive von Henry, der kurz nach seinem Abitur zum Kriegsdienst eingezogen wird. Und gerade als ich dachte, Henry überlebt den Krieg, stirbt er doch—somit liefert Schick eine Kriegsgeschichte aus der Sicht eines Gefallenen.
Etwas Erzähltes ist etwas Unwirkliches.
Man hat es nicht gesehen. Man hat es nicht erlebt. Bestimmte Gefühle und Einsichten bleiben somit verborgen. Es bleibt unwirklich.
Honora heroem. Ehre den Helden.
Honara justum. Ehre den Gerechten.
Warum verlieren wir die Worte in Gegenwart von bestimmten Personen?
Wir zitterten. Ich wegen der Kälte. Bill wegen der Nervosität. Bill hatte mit Katarina, mit seiner Katarina, schon einige wenige Worte gewechselt. Doch während wir in der Lage sind, mit jedem Menschen dieser Welt über alle Themen dieser Welt zu sprechen und zu diskutieren, fehlen uns alle Worte dieser Welt angesichts des Menschen, der unser Herz in Händen hält.
Durch die Geduld und Hingabe anderer Menschen.
Aber ich begann zu schwimmen. Und seit diesem Nachmittag, der nun wie in einer anderen Zeit zu liegen schien, konnte ich schwimmen. Ich konnte schwimmen, weil Heinz an diesem Nachmittag die Geduld aufbrachte, es mir beizubringen.
Ist alles Lernen etwas Künstliches? Bis wir dem, was wir gelernt haben, einen gewissen Ernst verleihen?
Beim Reichsarbeiterdienst war ich noch für die Einbringung der Ernte auf den Almwiesen der Bauern eingeteilt. Bei der Ausbildung in der Wehrmacht wurde ich mit Gewehren auf das Schießen auf Puppen trainiert. Auch ich lernte, ein Gewehr auseinander und zusammenzubauen. Mit scharfer Munition zu laden. Auf ein Ziel zu richten. Abzudrücken. Die todbringende Kugel in ihr Ziel zu schleudern. All das, was ich in dieser Zeit tat, war etwas Künstliches. Etwas Unwahres. Es waren Kugeln, die ich auf Puppen und Holzbretter verschossen hatte. Doch heute wurde Ernst aus dieser Übung, aus diesem Lernen. Ich hielt mein Gewehr vor mir, fest in meinen Händen, als der Laster uns zu unserem Ziel brachte.
Gedicht des Todes
Der Tod holt die,
die auf ihn warten,
zu sich ins Haus,
in seinen Garten.
Er holt auch die,
die noch nicht sollten,
die Träume hatten,
die leben wollten,
umschließt sie sanft
mit seinen Armen,
lässt sie nicht allein,
gibt ihnen ein Heim,
gibt ihnen Erbarmen.
Henry ist auf Genesungsurlaub.
Ich hatte die Zeit vergessen. Aber ich verspürte auch keinen Hunger. Alles, was ich verspürte, war eine unglaubliche Traurigkeit wegen jenen, die ich vermisste. Eine unendliche Traurigkeit, weil die, die ich vermisste, nicht hier sein konnten. Ich verspürte diese Traurigkeit, weil ich mich trotz der Tatsache, dass ich zuhause war, allein fühlte.
Das Gefühl allein zu sein, obwohl man unter Leuten ist, an seinem zuhause ist, unter Menschen, die man schätzt und gern hat. Aber etwas fehlt.
Früher war alles besser.
Wenn zu euch mal wieder Alte sagen sollten, früher sei alles besser gewesen, erzählt ihnen von einem “Früher”, das Martin das Leben gekostet hat. Ein “Früher”, das mich mit neunzehn Jahren dazu gezwungen hat, auf Menschen zu schießen. Ein “Früher”, in dem es zum guten Ton gehörte, Bücher zu verbrennen und Gemälde als entartet zu klassifizieren.
Gedicht. Ungelebte Leben?
Im Laub vieler Bäume
gedeihen auch Träume.
Doch fällt nieder das Laub,
werden Träume zu Staub.
Von Herodot:
Nur ein Narr sehnt sich den Krieg herbei und nicht den Frieden, denn im Frieden begraben Söhne ihre Väter, im Krieg Väter ihre Söhne.
Daniel Schick erzählt uns ebenfalls von dem jungen, russischen Soldaten namens Aljoscha. Henry hatte ihn während des Durchkämmens der Räume im Häuserkampf unverhofft und überraschend kauernd in einem Zimmer angetroffen (ein Bruder kam zu Gast). Und ihn nicht erschossen. Obwohl er das natürlich hätte tun sollen. Stattdessen umarmte er ihn. Er stellte sich vor, dass er ein—sein—jüngerer Bruder wäre; etwas, dass er sich seit einiger Zeit wünschte, nachdem er über seine zwei älteren Brüder nachgedacht hatte. Wie diese ihn geärgert hatten, aber vor allem, was and wie viel diese ihm beigebracht und wann sie ihn beschützt hatten. Henry wünschte sich einen jüngeren Bruder, sodass er ihm das Schwimmen, Radfahren und dergleichen beibringen konnte. Und um ihn zu beschützen.
Ich denke, aus dieser Situation im Zimmer während des Häuserkampfs kommt auch der Titel Ein Bruder kommt zu Gast. Henry trifft einen Bruder, aber nur sehr kurz—als Gast. Aus Sicht Aljoscha’s kann man auch Henry als Gast sehen. Henry ist sowieso als Soldat nur Gast in jenem Land.
Er hat es geschafft. Aljoscha überlebte den Krieg. Er studierte Medizin und ist Arzt geworden. Einmal hat er in einer stundenlangen Notoperation ein kleines Mädchen vor dem Tod gerettet. Ein kleines Mädchen, das heute nur deswegen als glückliche Großmutter leben kann, weil Aljoscha es hatte retten können. Wenn ich ein einziges Mal in meinem Leben etwas Heldenhaftes getan habe, dann habe ich es in diesem Augenblick, inmitten des Horrors des Krieges, getan. Damals, als ich Aljoscha nicht erschossen, sondern in den Arm genommen habe.
Aber sonst? Sonst gibt es nichts Heldenhaftes, das ich euch erzählen könnte. Denn ich war kein Held, ich war nicht mal ein Mann. Ich war neunzehn Jahre alt, als ich in den Ardennen starb. Gefallen für Großdeutschland, wie es mit einem Stempel in meinem Soldbuch vermerkt wurde. Mein Vater bewahrte es bis zu seinem eigenen Tod in der Schublade seines Nachttisches auf. Ich bin aber nicht für Großdeutschland gefallen, ich bin verheizt worden für eine völlig wahnsinnige Idee. Wir alle wurden damals sinnlos in den Tod geschickt. Bill, Joseph, ich und zu viele andere. Die Soldatenfriedhöfe in ganz Europa sind ein trauriges Zeugnis dafür. Leider wurden zu viele von uns im Laufe vieler Jahre vergessen.
Es ist nicht schlimm, wenn ihr heute ein glückliches Leben führt. Es ist nicht schlimm, wenn ihr eure Jugend genießt, wenn ihr euer Leben genießt. Dass ist euer gutes Recht. Aber vergesst nicht, ab und zu eure Mutter und euren Vater in den Arm zu nehmen. Einen Grund dafür braucht ihr nicht. Sie sind eure Eltern, das sollte genügen. Nehmt sie in eure Arme und fühlt gleichzeitig den Schutz ihrer Umarmung. Ich konnte es nicht mehr.
Und wenn jemand von den Alten behauptet, früher sei alles besser gewesen, dann widersprecht. Fragt sie, welches “Früher” sie meinen. Nicht immer war früher alles besser.
Erzählt ihnen von einem “Früher”, von einer Zeit, als junge Männer in Uniformen gesteckt wurden.
Erzählt ihnen von einem “Früher”, von einer Zeit, in der Tag für Tag Welten zusammenbrachen.
Erzählt ihnen von einem “Früher”, von einer Zeit, in der Träume zerstört wurden.
Erzählt ihnen von einem “Früher”, von einer Zeit, in der zu viele sinnlos sterben mussten.
Erzählt ihnen von diesem “Früher”, von dieser Zeit, die sich niemals wiederholen darf.
Erzählt ihnen von Heinz und Bill, von Martin, von Joseph und mir. Erzählt ihnen von uns. Von unseren unerfüllten Träumen, von unseren ungelebten Leben.
Über das ganze Buch hinweg wiederholt sich ein gleich beginnender Satz: Ein deutscher Junge weint nicht.
Die Hitlerjugend sollte die Jungen formen, schon frühzeitig und unbewusst das Soldatenleben indoktrinieren.
Die folgenden Sätze tauchen nach und nach im Buch auf.
Ein deutscher Junge weint nicht. Wie oft hörte ich diesen Satz in der Hitlerjugend. Aber ein deutscher Junge hatte nie gelernt, was eine Mutter fühlt, die gerade ihr Kind verloren hatte.
Ein deutscher Junge weint nicht. Ein deutscher Junge hat keine Angst. Die Parolen aus der Hitlerjugend drangen wie ein immerwährendes Echo an mein Ohr.
Ein deutscher Junge weint nicht. Aber als Johanna die Haustür geschlossen und ich mich umgedreht hatte, spürte ich eine Träne auf meiner Wange.
Ein deutscher Junge weint nicht. Aber ein deutscher Junge hatte nie gelernt, was es bedeutet, sein Zuhause verlassen zu müssen.
Ein deutscher Junge weint nicht. Aber ein deutscher Junge hatte nie gelernt, wie sich ein Vater fühlte, der seine Familie vermisste.
Ein deutscher Junge weint nicht. Aber ein deutscher Junge hatte nie gelernt, wie es sich anfühlte, erschossen zu werden.
Ein deutscher Junge weint nicht. Aber ein deutscher Junge hatte nie gelernt, wie es sich anfühlte, wenn man seine Heimatstadt in Trümmern liegen sah.
Ein deutscher Junge weint nicht. Aber ein deutscher Junge musste keine Albträume erleben. Ein deutscher Junge musste niemanden erschießen.
Articles from blogs I follow around the net
Status update, November 2024
Hi all! This month I’ve spent a lot of time triaging Sway and wlroots issues following the Sway 1.10 release. There are a few regressions, some of which are already fixed (thanks to all contributors for sending patches!). Kenny has added support for software-…
via emersion November 22, 2024Dismissed!
Dismissing gives me a quick little lift. “That guy is an idiot!” “That place sucks!” There. Now I feel superior. Now I don’t have to think about it. I don’t even need first-hand experience. I can just echo any complaint I’ve heard. I’ve done this with restaurants…
via Derek Sivers blog November 18, 2024Generated by openring